Vom Stahlbau zum Gärtnern

Martin ist ehrenamtlicher Mitarbeiter. Lange hat er im Stahlbau gearbeitet, dann wurde er arbeitslos. In der Arbeitslosigkeit entdeckte er neue Talente. Er sorgt für Kuchenduft und für die Blütenpracht auf der Dachterrasse. Seine eigenen Eltern hat er nicht alt werden sehen, umso lieber ist ihm die Arbeit mit den Senioren. Sein größter Wunsch ist eine Anstellung.

Martin ist oben auf der Dachterrasse zu finden, wie immer, wenn er eine Raucher-Pause macht. Neben dem kräftigen Mann mit dem blau-karierten Hemd, den dunklen Augen und der scharf geschnittenen Nase sitzt eine alte Dame im Rollstuhl. Still schauen die beiden über die Dächer von Schöneberg. Noch scheint die Sonne, doch der Wind baut dichte Wolkenwände, bald wird es regnen.

Martin deutet auf die filigranen Windräder, die sich auf dem Gestell des Gasometers drehen und erklärt, dass mit ihrer Energie ein Fuhrpark für Elektro-Autos gespeist wird. Natur und Technik sind Themen, mit denen er sich auskennt.

Er hat sie alle gesät und gezogen: Die wilden Stiefmütterchen am Geländer der Terrasse, die Rosen in den Töpfen davor, Mädchenauge und Clematis, die die Wände hochranken. Allein schon wegen der Pflanzen ist der Ehrenamtliche mehrmals die Woche hier. Bald, so hofft er, wird er eine feste Halbtagsstelle bekommen und sich dann auf die Arbeit mit Demenzkranken konzentrieren.

Jeden Morgen telefoniert er drei Telefonlisten ab

Doch dafür braucht er einen Schein zum „Betreuungs-Assistenten“. Und den zu bekommen, erweist sich als schwierig. Jeden Morgen telefoniert er drei Telefonlisten ab, die das Jobcenter ihm ausgedruckt hat. Auf den Listen stehen die Nummern der Ausbildungsstätten. Heute Morgen war es wie immer in den letzten Monaten: Unter jeder Nummer wurde ihm mitgeteilt, dass die Zahl der Anmeldungen nicht ausreiche, um einen Kurs zu starten. Dass er sich gedulden möge. Und Martin, dem nichts anderes übrig bleibt, geduldet sich: Er zieht weiterhin die Pflanzen, schiebt bei Ausflügen die Rollstühle, hört zu und bäckt Kuchen. Diesen Donnerstag will er Stachelbeer-Kuchen backen, mit Baiser. „Mit dem Duft kommt auch der Appetit“, weiß er. Die alte Dame im Rollstuhl neben ihm nickt.

Donnerstag bäckt er Stachelbeerkuchen. Früher arbeitete er im Stahlbau

Martin schätzt die Ruhe und den Frieden hier oben, über den Dächern. Laut und schweißtreibend ging es lange genug zu in seinem Leben: Viele Jahre hat er im Stahlbau gearbeitet, in Hagen, wo er Bodenklammern für die Bundesbahn herstellte. Er verdiente gut in dieser Zeit, fuhr an den Wochenenden auf dem Rad die Ruhr entlang, manchmal bis nach Duisburg. So hätte er weiter gemacht, bis zur Rente. Wenn ihm nicht die Arbeitslosigkeit dazwischen gekommen wäre. Der Betrieb beschloss, die Produktion in östlichere Länder zu verlagern.

Martin zog zurück nach Berlin, seine Geburtsstadt. Ein Jahr lang stellte er hier Ventile für gasbetriebene Straßenlaternen her, dann war der Bedarf gedeckt und er erneut arbeitslos. Er machte Gartenarbeiten, reparierte Spielzeug für Kitas, ging zum Jobcenter. Jeden „Ein-Euro-Job“, jede „Maßnahme“ nahm er an. Auch, wenn ihm manches sinnlos erschien. Etwa, als er in einer Holzwerkstatt an einem Hocker herumbasteln sollte, den weder er selbst noch sonst irgend jemand brauchte.

Als er zwölf war, starben seine Eltern

Die alte Dame im Rollstuhl legt eine Hand auf seinen Unterarm. „Heiß“, bringt sie mühsam hervor. Martin schaut zu ihr herüber, die Sonne scheint ihr direkt ins Gesicht. Er springt auf und schiebt sie in den Schatten. Auch das Seniorenheim lernte er durch einen „Ein-Euro-Job“ kennen. Und registrierte, dass er gebraucht wurde. Dass er sich wohlfühlte zwischen den alten Menschen.

Familiäre Betriebsamkeit kennt er aus seiner frühesten Kindheit. Er war das jüngste von zwölf Geschwistern, aufgewachsen in der Bruno-Taut-Siedlung in Zehlendorf, nah der Krummen Lanke. Kleine Arbeiterhäuser mit bunten Gärten waren das damals, gebaut für Leute wie seine Eltern: Die Mutter Krankenschwester, der Vater technischer Zeichner. Martin denkt gerne an die Sommer seiner Kindheit zurück, an den Geruch von Wasser, Kiefern und Sand.

Er hat seine Eltern nicht alt werden sehen. Beide starben im Alter von dreiundfünfzig Jahren, er selbst war damals zwölf. Statt seiner eigenen Eltern umsorgt er nun also Fremde, und das umso lieber. „Mit den eigenen Kindern sind die Senioren oft schwieriger“, beobachtet er. Dass sein Leben andere Wege nahm als geplant, grämt ihn nicht. Wenn nur endlich der Morgen da wäre, an dem eine Stimme am Telefonhörer ihm sagt: Der Kurs kann beginnen. Martin verabschiedet sich mit festem Händedruck. Dann schiebt er den Rollstuhl von der Dachterrasse, brummt etwas von einer Verbesserung des Türöffnungs-Systems, für die er sorgen möchte und verschwindet in einem der langen Gänge im Inneren des Gebäudes.

aufgezeichnet von Anne Jelena Schulte im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
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