Der Tag, der alles veränderte

Gertrud hat schneidern gelernt. Bis 1948 arbeitete sie in ihrem Beruf. Danach ging es nicht mehr. „Sie ist ständig umgefallen“, sagt die Nichte. Die Ärzte sagten, das hängt mit dem zusammen, was sie im Krieg erlebt und gesehen hat.

Der Februar 1945 war ungewöhnlich warm. Die Bomben fielen auf Berlin bei Frühlingstemperaturen und aus blauem Himmel. Am 26. Februar war das Wetter nicht ganz so schön, Wolken bedeckten den Himmel. Es war ein Montag. Gertrud und ihre Mutter waren vormittags aus dem Haus gegangen, um Einkäufe zu erledigen. Gertrud war 16 Jahre alt und hatte im Jahr zuvor ihre Schneiderlehre abgeschlossen. Sie arbeitete in einer Schneiderei in Kreuzberg, doch die war gerade ausgebombt worden. Am 26. Februar 1945 lagen ja schon viele Viertel von Berlin in Schutt und Asche.

Gegen Mittag saßen Mutter und Tochter in der U-Bahn. Sie waren auf dem Heimweg. Plötzlich heulten die Sirenen. Der Zug fuhr in den nächsten U-Bahnhof ein und wartete dort. Der Bahnhof lag unter der Erde, und Gertrud und ihre Mutter fühlten sich einigermaßen sicher. Doch dann krachte es fürchterlich. Mehrere Bomben durchschlugen die Decken des Bahnhofs und zerfetzten die Waggons.

So könnte es gewesen sein. „Beginn des Bombenangriffs um 12 Uhr mittags. Eine Stunde und 20 Minuten lang legten 26 starke Bomberverbände ihre Teppiche in und um Berlin auf Fabriken, Eisenbahnen, Bahnhöfe, haltende Transportzüge mit Munition für den Osten, auf das Polizeipräsidium, das Warenhaus Tietz, das Warenhaus Wertheim, auf noch stehende Hochhäuser, Stadt- und U-Bahnen und Krankenhäuser und hinterließen ein Meer von Rauch und Flammen“, schreibt ein Zeitzeuge über den 26. Februar 1945 auf der Internetseite des Deutschen Historischen Museums in Berlin. „Ein grausiges, unvorstellbares Bild von Tod und Zerstörung“, resümiert der Mann. An diesem Tag wurde auch der U-Bahnhof Memelstraße in Friedrichshain zerstört. Er heißt heute Weberwiese. Eine Gedenktafel erinnert dort an den 26. Februar 1945 und an die 200 Toten, die es gab. In den Waggons saßen vor allem Frauen und Kinder wie Gertrud und ihr Mutter.

Verschüttet

Die beiden überlebten einen Bombenangriff in der U-Bahn und wurden verschüttet. So viel steht fest. Doch ob es am 26. Februar 1944 war und ob im U-Bahnhof Memelstraße, lässt sich nicht mehr klären. Gertrud spricht nicht darüber. Vielleicht tut die Erinnerung zu weh und sie hat diesen Tag tief in sich vergraben. Vielleicht war das Gedächtnis gnädig und hat den Anblick der zerfetzten Leichen gelöscht. Gertruds Nichte ist es, die von dem Ereignis berichtet. „Es muss furchtbar gewesen sein“, sagt sie, „überall lagen Leichen und die beiden mussten darüber steigen, um sich einen Weg ins Freie zu bahnen.“ So hat sie es von ihrer Mutter gehört, als sie noch ein Kind war und fragte, warum Tante Gertrud manchmal so merkwürdig sei. Gertrud hatte drei Schwestern und einen Bruder, die alle wesentlich älter waren als sie.

Bis 1948 hat Gertrud als Schneiderin gearbeitet. Dann fing das an mit den epileptischen Anfällen. „Sie ist ständig umgefallen“, sagt ihre Nichte. Die Ärzte führten das auf das traumatische Erlebnis in der U-Bahn zurück. Schneidern konnte Gertrud danach nicht mehr. Sie musste von Aushilfsarbeiten leben. Mal putzte sie, mal passte sie in einem Büro aufs Telefon auf. Sie lebte immer sehr einfach.

Zu Männern hat sie Distanz gehalten

Gertrud hatte auch keinen Mann, der sie versorgte. Es gab zwar immer wieder welche, die für sie schwärmten. Zum Beispiel Joachim. Er schenkte ihr ein Foto von sich und schrieb auf die Rückseite: „Für immer Dein“. Das solle man aber bitte nicht falsch verstehen, sagt Gertrud. „Da ist nie was gewesen.“ Denn zu Männern hat sie Distanz gehalten, „die taugten alle nichts“. Als sie drei Jahre alt war, ist ihr Vater „abgehauen“. Auch über die Ehemänner ihrer Schwestern fällt ihr nichts Positives ein.

Doch zwei Ausnahmen gibt es: ihren Bruder Willi und Franz. Willi hat sie in den Arm genommen und sie getröstet, wenn sie als Kind Ohrenschmerzen hatte. „Mein Bärchen“ hat er sie genannt oder „Püppchen“. Wenn Willi sie im Arm hielt, konnte sie einschlafen. 1944 kam Feldpost aus Charkow. Willi sei für „Volk und Vaterland“ gefallen, stand darin. Und dass ihn die Kameraden in einem Wald beerdigt hätten. Willi war 32 Jahre alt. Gertrud hat den Brief lange aufbewahrt.

Franz hat sie beim Eislaufen in Neukölln kennengelernt. Sie waren 35 Jahre lang befreundet. Aber auch da sei „nichts“ gewesen. Denn Franz wollte keine Kinder mehr, er hatte schon vier und war zweimal verheiratet gewesen. Die Frauen waren viel zu früh gestorben. Auch Franz hat Distanz gehalten, sagt Gertrud. „Er hatte Angst, dass sonst auch ich zu früh sterbe.“

aufgezeichnet im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
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