Die richtige Entscheidung

Sie wächst auf in einer kleinen Stadt in Chile, zwischen dem Meer und den Bergen, direkt an der Panamericana. Mit neunzehn muss sie gehen, tausende Kilometer weit weg von zu Hause. Doch hier in Berlin findet sie, nach einigen Umwegen, genau das, was sie immer schon wollte: ein Leben, das sie eng mit den Menschen verbindet.

Es war selbstverständlich: Ausnahmslos jede Bewerbung, die Nadiezhda in Berlin geschrieben hatte, war, bevor sie sie in einen Umschlag gesteckt und zur Post gebracht hatte, von einem Muttersprachler gelesen und vor allen Dingen korrigiert worden. Ihr Deutsch ist fabelhaft, fraglos, reich an Worten und Wendungen. Doch gehen das Mündliche und das Schriftliche oft nicht Hand in Hand. Aus einem bindenden Genitiv wird schnell ein unzulässiger Dativ, aus einer vorgeschriebenen Syntax eine bunt durcheinandergeratene Wortfolge. Und mögen diese Irrtümer in der direkten Unterhaltung charmant wirken, so erscheinen sie im schriftlichen Umgang, zumal wenn der Empfänger den Sender nie zuvor zu Gesicht bekommen hat, inkompetent und schluderig. Unternehmen erwarten einwandfreie Unterlagen.

Dieses Mal aber war Nadiezhda von der Regel abgewichen, ausnahmsweise.

Die Anzeige der Immanuel Diakonie für eine Pflegefachkraft sah eher unscheinbar aus. Trotzdem wusste sie augenblicklich, dass die Stelle genau die richtige sein würde. Warum sollte sie mogeln? Sie kam nun einmal aus Talca, einer kleinen Stadt, südlich von Santiago de Chile, täuschte sich also hin und wieder in der Wahl des Artikels oder einer korrekten Endung. Was, fragte sie sich, haben diese Sprachschnitzer mit meinen Fähigkeiten zu tun? Verbirgt sich hinter geschliffenen Formulierungen nicht häufig eine gähnende Leere? „Meine Schreibfehler“, sagt sie, „spiegeln nicht meine fachliche Kompetenz wider.“

Sie schickte die Bewerbung ab, unkorrigiert.

Auch wenn das Telefon läutet

Die Antwort kam prompt: Sie könne, sofort, als stellvertretende Pflegedienstleiterin beginnen. Bereits drei Wochen später wurde sie gefragt, ob sie die Funktion der stellvertretenden Pflegedienstleiterin übernehmen wolle. Denn ihre Kompetenz beschränkt sich nicht allein auf das Fachliche, das sie in allen Nuancen beherrscht, sondern erstreckt sich in hohem Maß auch auf ihr grundsätzliches Verständnis vom Menschen. „Einen fremden Körper zu pflegen“, sagt sie, „ist eine ehrenwerte Aufgabe. Der Umgang mit den Menschen ist ein sehr intimer. Ich pflege meine Patienten, wie ich mich selbst pflegen würde.“

Nadiezhda besteht darauf, auch in ihrer leitenden Funktion, in der sie andauernd ans läutende Telefon muss, Formulare ausfüllt, Besprechungen vorbereitet, Dienstpläne erstellt, die ärztlichen Visiten auswertet, sich um die Qualitätssicherung im Haus kümmert und die Fragen der Kollegen beantwortet, selbst noch in der Pflege tätig zu sein. So lange sie denken kann, wollte sie einen Beruf erlernen, in dem sie in stetem Kontakt zu den Menschen steht. Lange trug sie den Wunsch in sich, Psychologin zu werden.

Doch kam es anders.

Ich bin ein Ossi

Denn das Politische ragte auf grausame Weise hinein in das Private. In ihrer Kindheit, ihrer Jugend, die sie in der fruchtbaren Ebene zwischen dem Pazifik und den Anden, zwischen Weinstöcken und Obstplantagen, verbrachte, zusammen mit den beiden Brüdern und der Schwester, erfuhr sie die Brutalität des Pinochet-Regimes. Es war zum Putsch gekommen, 1973, Salvador Allende hatte sich das Leben genommen, Hunderte seiner Anhänger waren getötet worden, Tausende inhaftiert. Nadiezhdas Vater, Bürgermeister von Talca und erklärter Gegner Pinochets, wurde gefoltert. Die Kinder flohen.

Nadiezhda landete 1987 in Leipzig. Sie lernte die deutsche Sprache und erhielt 1988 ein Stipendium für ein Landwirtschaftsstudium an der Humboldt-Universität. „Ich bin ein Ossi“, sagt sie und lacht. In Chile ist sie seit jener Zeit nur zwei Mal gewesen.

Tanzen und lernen

Während der letzten Prüfung war sie bereits schwanger, nur die Diplomarbeit hätte sie noch schreiben müssen, ein leichtes, im Grunde. Aber sie hatte sich immer schnell entschieden, hatte mit ihren Entscheidungen immer richtig gelegen und jetzt wusste sie, dass sie etwas anderes wollte und räumte alle Landwirtschaftsbücher in eine Kiste.

Zunächst genoss sie das Berliner Leben, mit ihren zwei Töchtern, mit einem Job in einem brasilianischen Restaurant, in dem sie in der Küche und später hinter dem Tresen stand, auf dem sie manchmal, wenn der Abend langsam zum Morgen wurde, tanzte. Bis sie herausfand, dass die Arbeiterwohlfahrt Pflegekurse anbietet. „Dort habe ich“, erzählt sie, „meine Leidenschaft für die Pflege entdeckt.“

Sie absolvierte also einen Kurs zur Pflegehelferin, ging für drei Jahre nach Bad Säckingen, im südwestlichen Zipfel Deutschlands, bekam eine weitere Tochter, kehrte zurück nach Berlin, arbeitete in einem Seniorenzentrum, ging wieder zur Schule, schloss eine Ausbildung zur examinierten Altenpflegerin ab und bewarb sich, im Winter 2013, bei der Immanuel Diakonie.

Es stellt sich die eine Frage, wenn es darum geht, Menschen, Alte, Kranke und Schwache zu waschen, zu windeln, einzucremen, ihnen die Kleider und Laken zu wechseln, ihnen die Tasse zu reichen und das Brot in kleine Quadrate zu teilen, ihnen zuzuhören, Sätze zig mal zu wiederholen, sie zu trösten: „Kostet es dann und wann auch Überwindung, all dies zu tun?“ Nadiezhda überlegt nicht einen einzigen Moment: „Diejenigen, die die Arbeit aushalten müssen, machen sie nicht mit dem Herzen.“

aufgezeichnet von Tatjana Wulfert im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
 
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