Vom Sportsgeist

Eigentlich wollte Jutta Sportlehrerin werden. Eigentlich hatte sie auch von der großen Liebe geträumt. Dann kam alles anders als geplant: Plötzlich stand sie als allein erziehende Mutter im Foto-Labor. Und entwickelte Bilder von Freddy Quinn. Sich selbst treu geblieben ist sie trotzdem. Ihren Sportsgeist gibt sie auch im Rollstuhl nicht auf.

Groß und glitzernd formen die Strass-Steinchen auf ihrem weißen T-Shirt das Wort JOY. Joy, trotz des Schlaganfalls, der sie in den Rollstuhl beförderte. Man habe sie bewusstlos auf der Straße gefunden, erzählte man ihr im Krankenhaus.

Ein Jahr ist das nun her. Das Gute ist: Jutta kann sprechen und denken wie zuvor. Und das Gehen möchte sie auch wieder lernen, kein Tag, an dem sie nicht turnt. Immerhin wollte sie mal Sportlehrerin werden.

Sechzehn Jahre alt war sie da und Schülerin eines Mädchengymnasiums in Friedenau. „Wenn du Sportlehrerin werden willst, musst du auch ein paar Semester Medizin studieren!“ Dieser Ausspruch einer Mitschülerin brachte den frisch formulierten Berufswunsch wieder ins Wanken. So begeistert sie Geräteturnen und Kurzstreckenlauf übte, so wenig mochte Jutta Schreibtisch-Sport, Büffelei.

Ein Autounfall machte die angehende Krankenschwester zur Patientin

Etwas ratlos schlug sie den naheliegendsten Weg für Mädchen ihrer Generation ein: Sie meldete sich zum Hauswirtschaftsjahr an. Im Martin-Luther-Krankenhaus ging sie den Schwestern zur Hand, fand Gefallen an den klaren Aufgaben, den freundlichen Kolleginnen, der praktischen Arbeit, und dachte sich: Krankenschwester. Das wäre schön. Doch ein Autounfall machte aus der angehenden Schwester selbst eine Patientin. Elf lange Wochen lag das schlanke, rothaarige Mädchen im Krankenhausbett. Gerade noch hatte sie zugunsten von Boogie und Rock'n'Roll den Foxtrott verworfen, hatte mit den Schmusesängern von der großen Liebe geträumt. Und jetzt hieß es: Still sein. Qualvoller als die Schmerzen erschien ihr das Nichtstun.

Vom Schwestern-Beruf riet man ihr ab, zu schwer verletzt war ihr Bein. So fand Jutta sich im Büro eines technischen Fotografen wieder, eine Arbeitsstelle, die Freunde ihr vermittelt hatten. Die Flucht vor dem Schreibtisch war missglückt. Doch die Dankbarkeit, überhaupt Arbeit gefunden zu haben im frühen Nachkriegs-Berlin, wog schwerer als der Wunsch nach Selbstverwirklichung.

Vielleicht existiert die große Liebe nur in Momenten

Das Arbeitsverhältnis endete abrupt. 23 Jahre alt war Jutta jetzt und hatte ihrem Chef gerade mitgeteilt, dass sie ein Kind erwartete. Mutterschutz gab es nicht. Sie hätte ihn gut gebrauchen können, denn als das Baby da war, war der Vater weg. „Den dunklen Punkt“ nennt Jutta dieses Kapitel. Froh war sie, dass ihre Mutter so unverbrüchlich zu ihr hielt. Was sie übrig hatte an Zeit, Geld und Fürsorglichkeit schenkte die geschiedene, wenig vermögende Frau ihrer Tochter und dem Enkelsohn.

Als das Kind fünf Jahre alt war, kehrte der Freund zurück. Sie heirateten, waren vier Jahre lang ein Ehepaar. Doch die Verbindung zerbrach erneut, diesmal endgültig. Die große Liebe, von der sie als junges Mädchen träumte, vielleicht existiert sie nur in Momenten.

Und plötzlich zauberte sie Bilder von Freddy Quinn aufs Fotopapier

Jutta, die der Sportgeist nie verlassen hatte, ließ sich nicht entmutigen. Sie ging zum Arbeitsamt, wo man ihr eine Stelle als Fotolaborantin vermittelte. Die neuen Arbeitgeber, ein Fotografen-Ehepaar, belieferten die Presse mit Fotos von Prominenten. Statt wie früher Rechnungen zu formulieren, durfte sie nun Bilder von Freddy Quinn und Caterina Valente auf das Papier zaubern, durfte auch ihr Kind mitbringen, wenn es krank war oder Schulausfall hatte. Die Arbeit gefiel ihr. Dreißig Jahre blieb sie dort, bis zur Rente.

Auch fand sie eine neue Liebe. Mit diesem Mann fuhr sie in die Berge und an andere Orte, die dazu einluden, wandern oder spazieren zu gehen. Viele Jahre waren vergangen, die Lust an Bewegung aber war ihr geblieben. „Vielleicht“, sagt Jutta, „vielleicht war ich zu stolz.“ Sie war es, die sich zurückzog von dem neuen Mann. Zu lange war sie daran gewöhnt gewesen, allein zu sein, zu groß der Wunsch nach Unabhängigkeit. Sie tat sich mit einer Kusine zusammen, die ebenso gerne Ausflüge und Reisen unternahm wie sie. Einmal überredete diese Kusine Jutta, mit ihr bis nach China zu reisen. Dort wandelten die beiden auf dem „Pfad der Könige“, probierten gebratene Entenfüße, lauschten dem Klang der fremden Sprache.

Jutta klopft auf die Lehne ihres Rollstuhls. Sie ist zuversichtlich, dass er kommen wird, der Tag, an dem sie wieder loslaufen wird. Bis dahin wandert sie durch alle Genres der Literatur. Gerade hat der Pfleger sie mit frischen Büchern versorgt, der Stapel liegt auf dem Schreibtisch ihres Einzelzimmers. So lange die Beine nicht wollen, muss es die Phantasie übernehmen, sie an neue, unbekannte Orte zu tragen.

aufgezeichnet von Anne Jelena Schulte im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
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