Im Tal der nicht ganz Ahnungslosen

Er war dabei, als die kleine DDR eine Weltneuheit entwickelte. Und fuhr er in den Urlaub, mit einem winzigen Wagen, war er doch der Größte. Hinter seinem Haus stand ein Mast, mit dem er meilenweit sehen konnte, auch wenn er nur in seinem Sessel im Wohnzimmer saß.

Ein winziges Ding nur. Aber eine Weltneuheit. Und entwickelt wurde es ausgerechnet in dem kleinen Land, über das die halbe Welt witzelte. In der DDR, mitten im sogenannten Tal der Ahnungslosen, in Dresden, wohin es kaum eine westliche Radio- oder Fernsehultrakurzwelle schaffte, entwarf 1957 eine Gruppe von Wissenschaftlern einen Sender, der Daten über die Druckverhältnisse und den pH-Wert aus dem Inneren des Körpers funkte. Die „Radiopille“ maß knapp drei Zentimeter und ließ sich von einem Menschen ohne größere Mühe schlucken, niemand mehr musste umständlich einen Schlauch hinunterwürgen, um Aufschluss über den Zustand von Magen oder Darm zu erhalten.

Der Ort der Erfindung war der Idyllischste. Zwischen Elbe und Dresdener Heide, in einem Schlösschen mit Türmchen und Terrassen, von wo aus man bis in die Sächsische Schweiz blicken konnte, hatte Manfred von Ardenne, der adelige Vorzeigewissenschaftler des Ostblocks, das einzige private Forschungsinstitut der DDR gegründet. Und zu den Denkern und Tüftlern um ihn, die den verschluckbaren Intestinalsender geschaffen hatten, gehörte Henry.

Jugendliche Energie

In Dresden wohnte Henry mit seiner Dorothea unweit der Altstadt.

Wäre es allerdings nach ihm gegangen, er hätte sich viel früher schon diesem Zirkel von Geistesmenschen angeschlossen, für ein Praktikum, kurz nach dem Abitur, hätte sich viel früher schon mit den Geheimnissen der Elektronik befasst als mit den geistlosen, grausamen Ereignissen auf der Erde.

Aber sein Versuch, der Wehrmacht zu entkommen, scheiterte, er wurde eingezogen, Ende 1944, kämpfte, kam in Kriegsgefangenschaft, vier Jahre lang, erst in ein Lager in Brünn, dann auf die Krim und nach Jalta. Zurück in Berlin, abgerissen und ausgehungert und doch voll jugendlicher Energie, begegnete ihm Dorothea. Ein ganzes, schönes Leben würde vor ihnen liegen, das begriffen sie sofort und machten sich gemeinsam auf den Weg nach Dresden, Dorothea zum Rundfunk und Henry an die Hochschule, später dann in den Kreis um Manfred von Ardenne, der sein Institut inzwischen von der Spree an die Elbe verlegt hatte.

Das Größte im kleinen Land

Der Fiat 600 kostete Henry in der DDR ein Vermögen von 12.000 Mark.

Sie fanden eine Wohnung nicht weit von der Altstadt, sie erwarben ein Grundstück, eine Datsche, wie man jetzt sagte, im Umland. Zuerst fuhren sie nur an den Wochenenden hinaus ins Grüne, mit ihrem Fiat 600. Henry war vernarrt in Autos, mochte es, die Landschaft an sich vorbeiziehen zu sehen, nicht nur die sächsische, auch die internationale, sofern von international die Rede sein konnte, damals.

Es ging durch die ungarische Tiefebene, zu den Hügeln um den Balaton und weiter bis zur bulgarischen Schwarzmeerküste. Hielten sie dort mit ihrem Fiat vor einem Hotel, zeigten sich die Angestellten besonders beflissen, merklich mehr, als gegenüber einem mickrigen Trabibesitzer. Wie aber kam ein Dresdener an einen italienischen Kleinwagen, das Größte in jenen Tagen in der DDR? Henry hatte das Auto auf der Leipziger Messe gesehen und zu Dorothea gesagt: „Den besorge ich mir.“ Und weil der einflussreiche Manfred von Ardenne an seiner Seite war, ging die Sache schnell. 12.000 Mark kostete das Kleinod, ein Vermögen.

Swimmingpool und Tagesschau

Später dann sparten sie sich den samstäglichen Weg hinaus auf die Datsche und zogen ganz aufs Land. Hoben hinter dem Haus eine vier mal fünf Meter große Grube aus, legten Folie hinein, füllten die Mulde mit Wasser und tauchten im Sommer täglich in ihren eigenen Swimmingpool. Die Erweiterung des Horizontes über den Gartenzaun hinweg, erwies sich da schon ein wenig komplizierter.

Auch ein Dresdener wollte sich nicht allein auf das staatliche Fernseh- und Radioprogramm verlassen. Aber gerade ein Dresdener kannte ja die Kniffe. Man brauchte einen Mast, keinen kurzen, und musste ihn unweit des Hauses aufstellen. Ein bisschen Bastelei, eine Spur Sachverstand, wovon Henry ja ausreichend besaß, und schon flimmerte die Tagesschau auch über die Bildschirme der nun nicht mehr ganz Ahnungslosen.

Kindheitsstadt

Doch bei aller Findigkeit: Die deutsch-deutsche Grenze blieb fest verschlossen, jedenfalls für die Menschen der einen Seite. Auf der anderen aber, im Berliner Stadtteil Lankwitz, lebte Henrys Mutter. Manchmal gab es eines dieser Pakete, die, wenn man sie öffnete, nach Kaffee und Seife rochen. Einmal, zu einem runden Geburtstag, durfte er auch rüber reisen, aber erst nach ihrem Tod kehrte er zurück in das Haus seiner Kindheit. Schöne Jahre noch blieben Henry und Dorothea, sie wanderten durch die slowakischen Berge, sie saßen in ihrem Garten, sie hatten einander. Bis Dorothea dieses Wort hörte: Krebs.

Henry sitzt in seinem Zimmer im Seniorenzentrum Schöneberg, die Sonne scheint herein, auf die Wand über dem Bett, wo zwei großformatige, gerahmte Fotografien hängen, auf dem einen schmiegt Dorothea das Gesicht an das seidig-braune Fell ihres Dackels, auf dem anderen erheben sich hinter ihr die schneebedeckten Karpaten. Henry hebt den Kopf. Er schaut Dorothea an, er schaut durch sie hindurch und auf das ganze schöne Leben mit ihr.

aufgezeichnet von Tatjana Wulfert im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
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