Es geht auch ohne Namen

„Das Leben hat mir Freude gemacht“, sagt Helga. Der erste Ehemann war in Ordnung, mit dem zweiten blieb nur wenig Zeit. Doch wie hießen die beiden nur? Helga blickt gerne zurück, auch wenn ihr die Details jetzt immer häufiger abhanden kommen.

Er war schlank und hatte einen Schneuzer, er ist ihr gleich aufgefallen. Jeden Abend kam er in die Kneipe. Zuerst wegen des Bierchens und der Kartenspiele. Dann wegen ihr. Weil sie so herzlich lachen konnte und tolle braun-rote Haare hatte. Helga stand hinter der Theke und besonders gerne zapfte sie jetzt ein Bier für ihn. Sie verstanden sich prächtig und irgendwann ging er mit ihr nach Hause. Und weil sie beide nicht mehr jung waren und keine Zeit mehr zu verlieren hatten, haben sie schnell geheiratet.

Helgas Haare sind heute grau, aber immer noch dick und lang. Sie hat sie zu zwei Zöpfen geflochten. Manchmal streicht sie andächtig darüber. Das Hochzeitsfoto steht auf ihrem Nachtisch. „Leider hatten wir uns nicht lange“, sagt Helga. Nur sechs Jahre. Dann ist er gestorben. „Ein guter Mann“, sagt Helga. Sie hat ihn auf dem Friedhof in Kreuzberg beerdigt. Zwanzig Jahre ist das jetzt her.

Helga schweigt eine Weile. Eben hat sie noch freundlich gelächelt. Jetzt verzieht sie das Gesicht. Wenn ihr doch bloß der Name einfallen würde! Welcher Name? Der Name des Friedhofs? Helga schüttelt energisch den Kopf. Der Name ihres Mannes. Sie kneift die Augen fest zusammen, als ob sie den Namen daraus hervorpressen könnte. Aber nichts zu machen. Buchdrucker war er, das weiß sie noch. Aber wie er hieß?

Diese schreckliche Demenz, die Namen und Erinnerungen klaut

Auch der Name ihres ersten Ehemannes ist ihr abhanden gekommen. Ooooh, ruft Helga. Es ist zum Verzweifeln! Diese schreckliche Demenz, die ihr Namen und Erinnerungen klaut. Der erste Ehemann sei „in Ordnung“ gewesen, sagt sie. Wenn er nur nicht so viel getrunken hätte. Irgendwann hatte sie genug und hat ihn vor die Tür gesetzt. Sie ist dann erst einmal mit den drei Töchtern alleine geblieben. War nicht einfach. Wenn die Kinder in der Schule waren, ging sie putzen. Als sie größer waren, arbeitete sie abends in der Kneipe um die Ecke. Das Geld musste ja irgendwo herkommen.

Es gab auch viele Schönes. Zum Beispiel, als sie im Sommer zu viert im Kreuzberger Prinzenbad schwimmen gelernt haben, sie und ihre drei Mädchen. Und am Wochenende sind sie zum Tegeler See rausgefahren. Die Sonne brannte auf der Haut. Helga streicht sich über die Arme. Sie kann sie immer noch spüren, die Sommersonne. Oder wenn sie sich mit ihren Freundinnen zum Tanzen und Singen getroffen hat. Auch das war schön. Aber das war wohl früher gewesen, als sie noch eine junge Frau war und noch keine Kinder hatte? Helga weiß es nicht mehr so genau. Statt lange im Gedächtnis zu kramen, lächelt sie lieber und summt eine Melodie: „Hoch auf dem gelben Waahaagen…“. Singen ist eine tolle Sache, sagt Helga. Das geht immer noch.

Spione

Doch was ist schon wieder da drüben los? Da hinten, im Hinterhof! Sehen Sie das nicht? Helga rollt mit den Augen, setzt einen konspirativen Blick auf und zeigt zum Fenster hinaus. Die Besucherin sieht Mietshäuser, Mülltonnen und Pappeln, die Blätter bewegen sich im Wind. Nein, das sind bestimmt keine Blätter, die sich da bewegen, widerspricht Helga und holt ein Fernglas aus der Schublade. Das sind Spione. Die Besucherin sieht Mülltonnen und Pappeln, die sich im Wind bewegen. „Da stehen Männer und glotzen rüber“, davon ist Helga überzeugt. Aber ist ihr doch egal. Sie ist eine alte Frau, da gibt’s nichts eh Spannendes zu sehen. Und wenn auch, sie zieht einfach die Vorhänge zu.

aufgezeichnet im Seniorenzentrum Schöneberg
 
 
 
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