Punkte im Gehirn
Sie war eine hervorragende Schwimmerin, sie tanzte gern, sie tauchte, sie bereiste die halbe Welt. Dann ändert sich alles. Zuerst spürt sie nur ein leichtes Kribbeln in den Armen. Dann kann sie sich nicht mehr bewegen, kann nicht mehr schwimmen, nicht mehr tanzen, tauchen und reisen. Und ist noch so jung.
Sie ist das Küken. Niemand sonst hier im Haus, im Seniorenzentrum, ist jünger als Norma. Doch auch, wenn sie sich unter die Leute in der Hauptstraße oder die Spaziergänger im nahen Volkspark Schöneberg mischen würde, käme niemand auf die Idee, sie für eine ältliche, gar alte Frau zu halten. Ihre Arme sind lang und schlank, das Haar weich und glänzend und ohne eine graue Strähne, und beginnt sie zu sprechen, erscheint hinter den allzu deutlichen Zeichen der beschwerlichen, den Körper beherrschenden Krankheit das Mädchen.
Das Mädchen aus Treuenbrietzen, das sie einmal war. Das mit seiner Großmutter im Garten stand und lernte, wie man Spargel sticht. Das Pflaumenklöße über alles liebte und Quetschkartoffeln mit Spiegelei. Das sang und tanzte. Das mit sechs Jahren schwimmen lernte, schneller schwamm als die anderen Kinder, bei Kreis- und Jugendspartakiaden so zügig durch das Wasser kraulte, dass man ihm mit zwölf vorschlug, auf eine Sportschule zu wechseln. „Aber ich hatte andere Gedanken“, sagt Norma. Welche Gedanken? „Na, das Leben zu genießen.“
Eine rote Linie
Die Treuenbrietzener Jugendlichen trafen sich damals, nach der Schule oder am frühen Abend, am Sabinchenbrunnen, direkt vor dem Rathaus. Ursprünglich stand auf dem Sockel die Bronzestatur Friedrich I. Sie verschwand während des 2. Weltkrieges, wohin, ist bis heute ungeklärt. Statt ihrer stellte man das Sabinchen auf, eine Figur aus einer alten Moritat:
Sabinchen war ein Frauenzimmer,/Gar hold und tugendhaft/
Sie diente treu und redlich immer/Bei ihrer Dienstherrschaft./
Da kam aus Treuenbrietzen/Ein junger Mann daher,/
Der wollte so gerne Sabinchen besitzen/Und war ein Schuhmacher./
Sein Geld hat er versoffen/In Schnaps und auch in Bier/
Da kam er zu Sabinchen geloffen/Und wollte welches von ihr.
So genau kannten Norma und ihre Freunde die Geschichte vom Sabinchen, das am Ende sterben wird, nicht. Es war eben ein Lied, aus vergangenen Zeiten. Sie standen und saßen einfach am Brunnen, lachten, schwatzten, die Mädchen warfen den Jungs heimliche Blicke zu, die Jungs den Mädchen. Und doch gab es diese Linie, eine Art roten Faden, der von Sabinchen zu Norma führte.
Auch bei ihr zu Hause war etwas in Unordnung geraten. Denn in einem glich der Schuhmacher aus dem schauerlichen Lied dem Vater, einem Schlosser: Der Schnaps und das Bier bekamen ihm nicht. Bekamen nicht der Mutter, nicht dem Bruder, nicht Norma. Gewissensbisse plagten ihn, immer wieder, bis er sie nicht mehr aushielt.
Norma stemmte sich gegen das Unglück, gegen die Traurigkeit, sie hörte Musik, Phil Collins und Bryan Adams, sie tanzte, sie fuhr im Rahmen eines Schüleraustausches nach Minsk, sie schloss die Schule mit „Auszeichnung“ ab und absolvierte eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Radiologieassistentin in Potsdam.
Alles war bunt
Am 7. November 1989, einen Tag vor ihrem Geburtstag, fuhr Norma nach Berlin. Am 8. November, zu ihrem Geburtstag, fuhr sie wieder nach Treuenbrietzen. Am Abend des 9. Novembers lag sie im Bett und las ein Buch. Bis sie die sich fast ein wenig überschlagende Stimme ihrer Mutter hörte: „Norma!“ Und noch einmal: „Norma! Die Mauer ist auf. Mach das Radio an.“ Norma stand auf und schaltete das Gerät ein. Sie ist keine Person, die übereilt in Emotionen zerfließt. „Aber in diesem Moment“, sagt sie „kamen mir Tränen.“
Am 10. November passierte Norma den Grenzübertritt und besuchte ihren Onkel und ihre Tante. Gemeinsam gingen sie los. Alles war bunt, überall leuchtete es. „Ich hab davon Kopfschmerzen gekriegt“, erzählt sie. „Und zu Hause weinte Mutti, weil sie Angst hatte, die Grenze würde wieder schließen und ich könne nicht mehr zurückkommen.“
Aber die Grenze blieb auf. Und Norma entschied sich 1990, mit ihrem Freund in Hannover zu leben. Sie begann, in einer Praxis für Radiologie zu arbeiten. Sie zog nach Burgdorf und von dort wieder nach Hannover. Sie lag an den Stränden Mallorcas und Bulgariens. Sie stand vor den ägyptischen Pyramiden. Sie sah die Sonne über Djerba aufgehen und lief durch die schattigen Straßenschluchten New Yorks. Sie probierte Tortillas in Mexiko und tauchte an den Küsten Australiens.
Von heut auf morgen
Doch gab es eine Sache, die am Anfang schlicht nur lästig war. Norma verspürte ein Kribbeln in den Armen. Es wird die Wirbelsäule sein, dachte sie, die Verspannungen, die vom ständigen Beugen des Halses während der Arbeit kommen. Und vielleicht auch von der Kraft, die manchmal das Private kosten kann. Aber die Parästhesie hatte ihre Ursache nicht im Rücken. Nach unzähligen Kernspintomographien und anderen Tests sagten die Ärzte: „Wir haben Punkte in ihrem Gehirn gefunden.“ Punkte im Gehirn. Multiple Sklerose.
Zunächst konnte Norma sich noch allein im Rollstuhl bewegen, konnte allein mit dem Auto zu ihrer Mutter nach Treuenbrietzen fahren, auf einen Stock gestützt, zu einem Konzert von Bryan Adams gehen. Aber dann kam ein Schub, der schlimmer war, als alle, die sie bisher kannte, ein Lebenseinschnitt, irreversibel. „Als mir die Ärzte sagten, ich könne nicht mehr allein wohnen“, sagt Norma, „hatte ich das Gefühl, mein Leben löst sich von heut auf morgen auf.“
Seit 2004 hat sie ein Zimmer hier im Haus, im Seniorenzentrum. Der Weg von Treuenbrietzen nach Berlin ist nicht zu weit für ihre Mutter, die jede Woche zu ihr kommt. Dann fahren sie gemeinsam nach Steglitz, um ein Eis zu essen oder durch die Geschäfte zu bummeln. Am 8. November, zu Normas Geburtstag, sehen sie sich eine Revue im Friedrichstadtpalast oder ein Stück im Theater an. Doch vieles fällt ihr schwer. Norma liest gern, aber ihre Augen sind schwach. „Ich bin leider raus aus dem Leben“, sagt sie. Und im selben Atemzug: „Hier zu sein, ist ein Wiedereintritt ins Leben. Und außerdem bin ich oft in der Gemeinde gegenüber, auf der anderen Seite der Hauptstraße und spreche dort mit den jungen Leuten.“ Denn sie ist doch das Küken.