Oma, Du bist cool
Achtzehn Jahre alt war Zeynep, als sie aus dem Süden der Türkei nach Berlin-Steglitz umziehen musste. Um sie zu trösten, führten die Eltern sie an den Wannsee. Was aber war der Wannsee gegen das Mittelmeer? Versöhnt mit ihrem Schicksal fühlte sie sich erst, als sie sich verliebte. Doch ihr Mann starb viel zu früh. Nun musste Zeynep ihre vier Kinder alleine durchbringen.
„In der Türkei“, sagt sie, „musste ich den Alten immer die Hand küssen.“ So waren die Sitten, als sie noch das Mädchen Zeynep war, das seine Wege am liebsten auf Rollschuhen zurücklegte. Das sich gerne unter die Jungen mischte, um mit ihnen Fußball zu spielen. Wenn diese sie auslachten und sagten: „Du bist ein Mädchen, du kannst das nicht,“ dann nahm sie ihnen den Ball weg.
Das war die eine Zeynep. Die andere war zärtlich, hilfsbereit. Diese beließ es nicht dabei, den Alten die Hand zu küssen, sondern half ihnen auch beim Einkaufen und Putzen, einfach so, von sich aus. Hätte eine Wahrsagerin ihr prophezeit, dass sie einmal als Altenpflegerin arbeiten würde, wäre Zeynep vermutlich nicht überrascht gewesen. Darüber, dass sie ihr Leben in Deutschland zubringen würde, schon. Warum die Eltern nach Berlin zogen, weiß sie bis heute nicht so genau. Wirtschaftliche Not war es nicht, auch keine soziale Zwangslage. Sicher weiß sie nur, dass ihre Mutter einen ähnlich zupackenden Charakter hatte wie sie selbst. Den Umzug nach Deutschland organisierte diese, ohne ihren Mann zu fragen.
Was ist der Wannsee gegen das Mittelmeer?
Achtzehn Jahre alte war Zeynep, als sie sich in Berlin-Steglitz wiederfand. Grau und kalt erschien ihr die Stadt, fremd die Sprache. Voller Vorwürfe war sie. „Warum hast du das getan?“ fragte sie. „Damit ihr eine bessere Zukunft habt“, war die knappe Antwort der Mutter. Zeynep wurde in einer Sprachschule angemeldet und von den Eltern an den Wannsee geführt.
Trüb sah sie auf das ebenso trübe Wasser und vermisste das Meer. Dann aber fand sie Freunde, mit denen sie ins Kino ging, im Forum Steglitz Eis schleckte oder Kaffee trank. Und, viel wichtiger: sie verliebte sich. Von da an tat das Heimweh nicht mehr weh.
Zeyneps Augen verdunkeln sich beim Erzählen. Es war eine große, erste Liebe, für beide. „Er kommt aus dem Norden, wir sind aus dem Süden. Wir kennen seine Familie nicht“, jammerten ihre Eltern. Doch das Paar heiratete über die Bedenken einfach hinweg, bekam vier Kinder, führte eine gute Ehe. Dann starb ihr Mann, viel zu früh. Zeynep war jetzt Witwe und Mutter von vier kleinen Kindern. „Das war vor siebenundzwanzig Jahren.“ Sie schweigt. Immer drückender wird die Stille. Zeit, vorsichtig nachzufragen: Wie ging dein Leben weiter?
Von Niemandem wollte ich Unterstützung haben
Die Antwort kommt unverzüglich: „Von niemandem wollte ich Unterstützung haben!“ So, wie sie das sagt, sieht man das Mädchen in ihr, das einst den Jungen den Fußball wegnahm. Sie wollte selbst für ihre Kinder sorgen, nach Jahren der Hausarbeit eigenes Geld verdienen.
Zeynep wurde Sekretärin in der Baufirma ihrer Brüder. Viereinhalb Jahre lang arbeitete sie dort, dann hatte sie deren Bevormundung satt. „Das war nicht mein Stil.“ Eine Freundin vermittelte ihr einen Praktikumsplatz in der Altenpflege. Diese Arbeit empfand sie als anstrengend, aber befriedigend: Wie schon als Kind freute Zeynep sich über die Freude der gut Versorgten. Sie machte Fortbildungen, wurde Pflegehelferin.
Seitdem sie diese Arbeit aufgenommen hatte, kümmerte Zeynep sich in der ersten Tageshälfte um die alten Menschen, in der zweiten um ihre heranwachsenden Kinder. „Manchmal frage ich mich selber: Wie hast du das denn geschafft?“ sagt sie. „Aber man schafft das.“ Nur keinen Leerlauf. Nur keine dunklen Gedanken aufkommen lassen, nicht bei sich selbst, nicht bei den Kindern. Hatte sie frei, ging sie mit ihnen Schwimmen, in den Park oder ins Kino. Ihre beiden Söhne wurden angemeldet zum Boxen: Heraus mit den Kräften. Froh ist sie über die Wege, die ihre Kinder eingeschlagen haben, keines, das ihr größere Sorgen bereitet.
Deutschland ist ihr Zuhause
In die Türkei fährt sie nur noch, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen, die dort beerdigt werden wollte. Zu Hause fühlt Zeynep sich in Deutschland. Umso trauriger macht es sie, wenn sie hier in die Ausländer-Schublade sortiert wird, etwa, wenn ihr in der U-Bahn jemand zuraunt: „Geh nach Hause.“ Auch ihre Kinder mussten solcherlei Anfeindungen erleben, obwohl sie hier geboren sind und Zeynep erbarmungslos verbessern, sobald sie im Deutschen einen Fehler macht.
Nun sind die Kinder groß, Zeynep lebt allein. Manchmal trifft sie sich mit Freundinnen, um sich mit diesen einen „türkischen Abend“ zu machen. Oft kommen die Kinder und Enkel zu Besuch, und weiterhin arbeitet sie als Pflegehelferin.
Sieht man sie in dem ärmellosen T-Shirt, das ihre schönen Arme gut zur Geltung bringt, schaut man in ihre lebhaften Augen, liegt nichts ferner als der Gedanke, dass diese Frau vierfache Mutter und sechsfache Großmutter sein könnte.
„Oma, du bist cool“ sagte ihr jüngster Enkel neulich zu ihr und hob seinen Daumen in die Luft. Zeynep lacht. „Hoffentlich“, sagt sie, „habe ich noch lange die Kraft und die Gesundheit, um weiterzumachen.“