Himbeergelee und Nussbruch
Süßigkeiten waren damals, fünf Jahre nach Kriegsende, noch längst keine Selbstverständlichkeit. Trotzdem stand Waltraud jeden Tag dreizehn Stunden in einem Geschäft und verkaufte Konfitüren, Kekse und Schokolade. In den Laden kamen feine Damen und blasse Kinder und eines Tages auch ein junger Tischler.
„Gnädige Frau, bitte schön, danke sehr“, ein Knicks oder ein dezentes Neigen des Kopfes, die Gnädige lächelt sparsam und tritt auf das Trottoir mit ihrem sorgsam verschnürten Päckchen, in das Waltraud behutsam eine Handvoll Nougatpralinés gelegt hat. Waltraud ist froh, diese Lehrstelle gefunden zu haben, Verkäuferin zu werden war zwar nicht ihr innigster Wunsch, aber fünf Jahre nach dem Krieg hat man eben keine Flausen im Kopf zu haben.
Dort, wo sie herkommt, sprechen die Männer die Frauen nie mit „Gnädige“ an, und bei ihr zu Hause, in der Breiten Straße, immerhin einer „besseren Gegend“, beugt man nicht nur den Kopf, sondern den gesamten Rücken, um zum Beispiel den Lappen über dem Eimer auszuwringen. Ihre Eltern haben eine Portiersstelle, erledigen kleinere Reparaturen im Haus, wechseln die Glühbirnen, putzen die Fenster und wischen das Treppenhaus, und Waltraud und ihre Schwester helfen nach der Schule selbstverständlich mit.
Im Schlaraffenland
Dagegen ist die Arbeit im Konfitüren- und Schokoladengeschäft geradezu delikat. Die Ware ist empfindlich und von erlesener Qualität, es duftet nach Kakao und die Gläser mit den Fruchtkompositionen stehen hübsch angeordnet in den Regalen. Es gibt Himbeergelee und Erdbeermarmelade, Kekse und Plätzchen, dunkle und helle Schokolade, mit Nüssen oder ohne. Niemand aber verschlingt diese Herrlichkeiten tagtäglich und maßlos, weder die Betuchteren und schon gar nicht die, die jede Mark zwei Mal umdrehen müssen. Zwar gibt es keine Lebensmittelkarten mehr, ab dem 1. März 1950 sind die Rationalisierungen, mit Ausnahme von Zucker, aufgehoben worden. Und seit dem 1. Mai fällt auch diese Einschränkung weg. Aber Süßes bleibt nach wie vor etwas Besonderes, das zu Weihnachten oder zum Geburtstag verschenkt wird.
Gerade Kinder streifen häufig um das Geschäft oder drücken ihre blassen Großstadtnasen an die Fensterscheibe, stellen sich vor, welchen Schatz aus diesem Schlaraffenland sie sich kaufen würden. Haben sie dann endlich ein paar Groschen beisammen, betreten sie den Laden und erstehen eine Kleinigkeit. Später können sie die bunten Bonbons auch ohne Umweg in den Laden betrachten, denn vor dem Geschäft thronen Drei-Kilo-Gläser, in denen es smaragden und purpurn und sonnengelb funkelt.
Spaziergang mit Hund
Dann und wann schaut auch ein junger Herr herein, ein Tischler, und kauft ein Tütchen Nussbruch, der etwas günstiger ist, als eine unversehrte Tafel. Sie kommen ins Gespräch, Waltraud und Gustaf, sie entdeckt, dass er am Abend mit seinem Hund spazieren geht, und so laufen sie immer öfter ein Stück zusammen und eines Tages dann zum Standesamt.
„In der ersten Zeit“, erzählt Waltraud, „sind wir nicht in den Urlaub jefahren. Später dann für ein, zwei Wochen nach Kärnten. Ick hab ja immer jearbeitet, jeden Tach von sieben bis zwanzig Uhr, auch samstags. Und sonntags musst ick mich um den Haushalt kümmern.“ Aber sie wirkt keineswegs bedrückt deswegen. „Ick hab für den Laden jelebt, auch wenn er mir nicht gehörte, fünfzig Jahre lang.”
Kinder haben sie keine, aber sie sind froh, so wie es ist. Bis Gustaf an Krebs erkrankt. Er stirbt, während Waltraud wegen einer Hüftoperation im Krankenhaus liegt. Sie wohnt jetzt allein, aber manchmal trifft sie noch Leute von früher, Leute, die sie im Geschäft bedient hat. Im Dezember 2014 kann sie nach einem Unfall nicht mehr ohne Hilfe leben und zieht ins Seniorenzentrum Schöneberg. Hin und wieder kommt eine Freundin vorbei. Sie sitzen dann in der obersten Etage, vor dem Panoramafenster, schauen auf die Hauptstraße hinab, schwatzen, trinken einen Kaffee und essen ein Stück Schokolade dazu.