Am Anfang steht das hohe C
Aus Werner wäre vielleicht ein Opernsänger geworden, ein Star wie Rita Paul. Mit der hat er in den 30er Jahren als Jugendlicher in Berlin auf der Bühne gestanden. Doch der Vater erlaubte nicht, dass er Gesang studiert, und hat das Kuvert mit dem Stipendium von Hitler zerrissen. Der Krieg und das Strafgefangenenlager in Workuta machten später alle Träume zunichte. Doch irgendwann holte sich auch Werner seinen Teil vom guten Leben.
Die anderen spielten Fußball. Werner ging singen. Vier mal die Woche, manchmal noch häufiger. Er hatte gerade das ABC gelernt, da sollte er schon Noten vom Blatt ablesen. Denn das hohe C, das konnte er wie nur wenige Jungs im Kinderchor.
Mit zehn Jahren stand er zum ersten Mal auf der Bühne: bei Märchenaufführungen im Kindertheater, beim Frühjahrskonzert in der Philharmonie, in der Deutschen Oper. Manchmal durfte er mit zwei, drei anderen Kindern als Solist auftreten, einmal auch mit Rita Paul. Sie ist ein Jahr jünger als er und wurde später ein Star.
Werner bekam mit, was hinter den Kulissen geschah, wie sich Schauspieler und Sänger vorbereiten, schminken, nervös sind. Die anderen konnten ihm noch so begeistert von Fußballturnieren erzählen und von ihren Abenteuern bei der Hitlerjugend - seine Welt war das Theater. Ob er aufgeregt war vor den Auftritten? „Ach nee“, sagt der alte Herr und winkt mit der Hand ab. „Alles Gewöhnung“.
Hitler trinkt Kaffee – Werner singt Weihnachtslieder für ihn
Einmal, 1940 muss das gewesen sein, wurde er mit zwanzig anderen Jungen und Mädchen in die Reichskanzlei gefahren. Es war am zweiten Weihnachtsfeiertag. Sie standen in einem großen Saal und sangen Weihnachtslieder, während Hitler und die Familien Goebbels und Göring Kaffee tranken. Nach dem Auftritt steckte ihm Hitler ein Kuvert zu. Zuhause öffnete es der Vater: Werner wurde eingeladen, auf Reichskosten Gesang zu studieren. Er war 13 Jahre alt und sah seine Karriere als Opernstar vor sich: Wie ihm die Fans zujubeln, wie er auf den großen Bühnen der Welt steht und endlich rauskommen würde aus den zwei Zimmern in Kreuzberg. Wie er sich freute!
Der Vater nimmt den Brief und zerreißt ihn. „Das Künstlerleben ist ein Hungerleben“, ruft er empört. Sein Sohn soll gefälligst etwas Anständiges lernen. Der Vater war früher Berufssoldat. Widerspruch ist zwecklos. Erst recht 1940. Der Vater schickt ihn in eine Fabrik. Er soll Werkzeugmacher werden. Der Lärm der Maschinen verändert sein Gehör, er hat keine Zeit mehr für die Chorproben. 1941, mit 14 Jahren, steht er zum letzten Mal auf einer Theaterbühne.
Der Krieg schickt ihn 1944 zum Arbeitsdienst, zur Infanterie und ins russische Kriegsgefangenenlager an den Ural. Werner muss Straßen bauen und bei minus 40 Grad in den Wäldern Holz schlagen. 1947 kehrt er zurück, ausgemergelt und unterernährt.
Er soll ein Spion sein? Für wen? Wozu?
Er heiratet, wird Vater und lässt sich scheiden. Dann kommt der 1. März 1953. Werner wartet im S-Bahnhof Bernau, dass sein Zug abfährt. Er wartet zehn Minuten, 20 Minuten, 30 Minuten. Und weil er nichts Besseres zu tun hat, blättert er in einer alten Zeitung und malt mit einem Stift auf ihr herum. Ab und zu schaut er rüber aufs andere Gleis. Dort werden russische Soldaten verladen. Plötzlich rennen zwei zu ihm herüber, reißen die Waggontür auf, zerren ihn hinaus. Sie schreien ihn an: Du Spion!
Er ein Spion? Für wen? Wofür? Es ist absurd. Doch das will keiner hören. Sie stecken ihn in eine Einzelzelle, verhören ihn nachts und lassen ihn auch am Tag nicht schlafen. Es ist Folter. Niemand setzt sich für ihn ein. Sein Vater war in Polen auf eine Mine getreten. Seine Mutter wird abgewiesen. Nach vier Monaten ist ihm alles egal. Das Urteil ist so absurd wie der Prozess: 102 Jahre Zuchthaus.
In Workuta erfrieren alle Hoffnungen im ewigen Eis
Vom sowjetischen Untersuchungshaftgefängnis in der Berliner Magdalenenstraße verlegen sie ihn ins Moskauer Lubjanka-Gefängnis und machen ihm nochmal den Prozess: 25 Jahre Workuta. Bergwerkslager im ewigen Eis. Acht Monate Winter mit minus 60 Grad. Im Sommer kommen die Mücken. An Flucht ist nicht zu denken. Der nächste Ort ist 800 Kilometer entfernt. Was war, ist vergessen. Was sein wird, egal. Heute ist heute. Totale Abstumpfung. Die einzige Freude sind Päckchen vom Roten Kreuz: Sie sind ein Zeichen, dass die Männer nördlich des Polarkreises nicht völlig vergessen sind.
1955 handelt Bundeskanzler Konrad Adenauer bei einem Besuch in Moskau aus, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen in Workuta freigelassen werden. Auch für die politischen Häftlinge wie Werner wird es danach leichter. Er arbeitet noch ein Jahr in der Lagerbäckerei. 1956 kommt er frei und setzt mit verzweifeltem Trotz durch, dass er in Lichtenberg in einen Zug nach Westberlin gesetzt wird. Dort wohnt seine Schwester.
Seine Jugend ist weg. Als er sich endlich ins Leben stürzen kann, ist er 30Jahre alt. Er versucht zu vergessen, und manchmal, wenn die Erinnerungen hochkommen, betäubt er sich mit Alkohol – und Musik. Er arbeitet sich hoch zum Vorarbeiter in der Metallindustrie. Später ist er für die Montage von Ersatzteilen in einer Fabrik für Frankiermaschinen verantwortlich.
Das gute Leben: Tanzen, reisen, Sommer auf der Datsche
Mit 46 Jahren lernt er seine Inge kennen. Sie ist sechs Jahre jünger. Für Kinder ist es zu spät. Macht nichts. Die beiden wollen sowieso lieber unabhängig sein und endlich ihren Teil vom Leben haben. Die Sommer verbringen sie auf der Datsche, im Winter gehen sie tanzen. „Komm, wir dreh’n ne Runde langsamen Walzer“, sagt Inge zu ihm und zupft ihn am Ärmel. Im Café Keese gehören sie immer zu den ersten auf dem Parkett.
Jedes Jahr machen sie eine große Reise. Sie fahren nach Italien, in die Schweiz, nach Ungarn, Jugoslawien und in die Türkei. Europa ist ihnen bald zu klein. Jetzt gehen die Reisen nach Tunesien, Marokko, Gambia, Thailand. Sie legen sich nicht nur an den Strand und besuchen Ruinen. Das reicht den beiden nicht. Sie heuern Führer an und lassen sich in die Dörfer fahren, sprechen mit den Einheimischen, wollen wissen, was sie denken und wovon sie leben.
Nur nach Russland fahren sie nie. Werner hat in Workuta viel weite Tundra, blau-grünes Nordlicht und Mitsommernächte erlebt. Das reicht fürs Leben. Aus Ungarn hat er sich eine hölzerne Jungfrau Maria mitgebracht, aus Südamerika eine Maske der Inka. In Berlin hat er eine nepalesische Maske dazu gekauft und ein Amulett von Indianern. Seine Frau ist 2013 gestorben. Seitdem bewachen Maria und die geschnitzten Köpfe aus den fernen Ländern seinen Schlaf.